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Archiv für den Monat Januar 2020

Mirza und die Leine

Mirza und die Leine

Vor wenigen Tagen habe ich einen weiteren traumatisierten Strassenhund aufgenommen: Mirza. Sie war in einer anderen Pflegefamilie untergebracht, die Methoden dort gefielen der Hilfsorganistaion allerdings nicht.
Ich möchte mich dazu gar nicht weiter äußern, sondern habe mir in diesem Zuge Gedanken gemacht, über meine eigene Art der Arbeit:

Mirza und die Leine – oder: der traumatisierte Straßenhund

Beschwichtigungssignale

  • sich kratzen
  • Bögen laufen, langsam gehen
  • Spielposition
  • Kopf abwenden, sich ganz abwenden
  • Schnüffeln
  • Gähnen
  • Wegsehen
  • Über die Nase lecken
  • Sich schütteln
  • Pfote heben
  • Hinsetzen / Hinlegen (auf den Rücken drehen)
  • Schwanz wedeln
  • Einfrieren / „Schockstarre“

Ursachen dafür finden wir viele: Artgenossen, Kinder, Straßenverkehr, Besucher….

Natürlich kann jede einzelne dieser Verhaltensweisen auch auf etwas anderes hin deuten: gähnen = müde, zum Beispiel.
Es ist wichtig, die Anzeichen genau zu beobachten und im Zusammenhang mit der Situation zu sehen und auch, ob mehrer Anzeichen auftreten, gleichzeitig oder nacheinander. Also ob sich die Situation zuspitzt.
Beispiel: schnüffeln – gähnen – kratzen – Pfote heben – sich hinlegen…
Ebenso wichtig ist es, den ganzen Hund zu beobachten: er wedelt mit dem Schwanz, hat aber die Ohren angelegt, den Kopf gesenkt und geht sehr langsam….

Privatsphäre

Ich halte es für überaus wichtig, dass der Hund zu Beginn einen Schutzraum hat, in den er sich flüchten kann und wo er zuerst auch in Ruhe gelassen wird.
Mit der Zeit kann ich mehr und mehr in diesen Raum eindringen. Aber um Vertrauen aufzubauen, braucht der Hund zu Beginn eine Rückzugsmöglichkeit.
So kann er lernen, dass er ein Mitspracherecht, eine eigene Stimme hat.

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

PTBS gibt es auch beim Hund. Warum auch nicht? Sie sind Säugetiere wie wir.
Auslöser kann vieles sein: ein Unfall, Aussetzten, Gewalt, Traumata…

Nun haben wir hier eine Hündin, geboren ca 2016, die auf der Straße in Rumänien lebte und von den dogcatchern 2017 eingefangen wurde und seit dem im Tierheim lebte.

Dogcatcher fangen Hunde mit Schlingen ein. Diese Hündin hatte also eine Schlinge um den Hals, die sich immer enger zu zog. Sie bekam keine Luft mehr, konnte nicht fliehen, hatte erhebliche Schmerzen (oft werden die Hunde an der Schlinge hoch gehoben).

Mirza hat um ihr Leben gekämpft und hatte Todesangst.

Das Problem ist, dieser Kampf hinterlässt nicht nur Spuren in ihrem Bewusstsein, auch in ihrem Körper. Unsere Zellen haben ein ganz eigenes Gedächtnis. Unser Gewebe speichert Traumata unabhängig von unserem Gehirn ab.

Wenn ich Mirza nun zu der Leine dränge, wird sie sich irgendwann ergeben. Aber das ist nicht der Sinn meiner Arbeit. Ich wünsche mir einen Hund, der selbstbewusst und stabil ist und mir vertraut.
Die Leine liegt an der immer gleichen Wunde: sie ist gefangen und hat Schmerzen.
Auch wenn ihr die Leine heute keine Schmerzen mehr zufügt, so bleibt die Angst, das Traumata.

Hier gibt es mehrere Ansätze: die Cranio Sacrale Therapie aus der Osteopathie. Sie kann Schädel, Nacken, Rückenmark und Nerven behandeln und den Zellen helfen zu heilen.
Bänder, Sehnen, Muskeln, Faszien, Nerven – sie alle sind betroffen.
Hier wurden mit Sicherheit durch die dogcatcher erhebliche Schäden angerichtet.
Auch Faszientherapie für den ganzen Körper ist sehr sinnvoll, denn oft verlagern sich Probleme.

Die Zellen müssen genau so behandelt und geheilt werden, wie das Bewusstsein.

Die Methode nach Linda Tellington – Jones: TTouch und Körperbandagen. Die Zellen werden stimuliert, aktiviert und können Traumata los lassen um Neues zu erlernen. Sie stärken das Körperempfinden des Tieres, festigen sein Selbstbewusstsein und die Koordination. Und sie stärken die Bindung zum Menschen!

Rhythmus – Routine – Rotation

Die drei R finden wir im Verhaltenstraining wie auch in der Therapie.
Egal ob es um Fütterungszeiten geht oder Massage-Therapie. Sie geben dem Tier einen stabilen Rahmen, in dem es sich sicher fühlen kann und den Kopf frei bekommt um lernen zu können.

Aber all das braucht Zeit und muss sich am Rhythmus des Tieres orientieren.

Wenn ich ihre Stresssignale ignoriere, laufe ich Gefahr, keinen Fortschritt zu erreichen, weil sie nicht mehr in der Lage ist, etwas auf zu nehmen, mir zu zuhören. Das kann ihr Traumata im schlimmsten Fall noch verstärken.

Wir müssen zu erst die Blockaden in Kopf und Körper lösen, um wieder Neues lernen zu können. Die Festplatte muss gelöscht werden, um neu programmiert zu werden.

Ich arbeite seit fünf Jahren mit traumatisierten Hunden.
Und da geht es nicht um einen Wettkampf. Mir ist es völlig egal, ob es 6 Monate dauert oder ein Jahr. Der kleinste Fortschritt zählt! Auch wenn er für andere oft nicht sichtbar erscheint. (Das gleiche gilt für meine Arbeit mit Eragon und Loulette 😉 )

Wenn ich Mirza die Leine zeige, oder meine Hand, dreht sie sich ab, wendet den Blick ab und friert ein. Sie zeigt ganz klare Anzeichen von Stress.
Ich gehe zu Beginn nur so weit, wie sie es gerade noch aushalten kann.
Die Leine lege ich zur Seite und arbeite nur mit meiner Hand und etwas positivem: Futter. Sie frisst mir aus der Hand, und das ist ein sehr guter Anfang.

Für mich steht hier Gehorsam nicht an oberster Stelle, sondern Vertrauen aufzubauen und einen Hund zu unterstützen, der in der Lage ist, mit mir zu arbeiten.

Und deswegen wird es in nächster Zukunft keine Videos geben, in dem Mirza an der Leine bei Fuß läuft.

 

 
 

Calimero

Calimero

Cali kam 2018 zu uns. Ich sah eine Anzeige auf facebook von der belgisch-französischen Tierschutzorganistaion „Association Remember Me“, die rumänische Strassenhunde unterstützt und vermittelt.
Ich bewarb mich für Cali. Er hatte bei einem Unfall mit einer Strassenbahn sein Vorderbein, die Rute und ein halbes Ohr verloren.
Er war ein kleines Häufchen Elend… ich fuhr nach Paris, wo ich ihn in Empfang nahm, nachdem er 2.400 km quer durch Europa gereist war.

Die Verletzung und die Operation waren noch nicht lange her und er hatte noch einige Mühe, sich an das Laufen auf drei Beinen zu gewöhnen. Zum Glück war er noch sehr jung, sein Körper noch nicht richtig ausgewachsen. So konnte er mit seiner Beeinträchtigung wachsen.
Zu Beginn war er wenig angetan von uns. Aber er hat sehr schnell die Vorzüge erkannt.
Wir hatten alle einen stark traumatisierten Hund erwartet… ängstlich: ja, aber nicht traumatisiert. Es dauerte nicht lange, und er besetzte alle Sofas – anstelle von Hundebetten. Er kletterte über Tische und Bänke und um etwas essbares zu erreichen ist ihm bis heute kein weg zu weit, kein tisch zu hoch und keine Abgrund zu tief.
Was zur Folge hat, dass er nach wie vor öfters mal auf die Nase fällt.
Aber er ist ein erstaunlicher Akrobat. Ein Clown, der immer wieder aufsteht, sich schüttelt, die Krone richtet und einfach weiter macht.

Seine Auswirkung auf Diesel und Tim war überraschend. Beide haben in ihrer Entwicklung noch mal einen großen Schritt nach vorne gemacht.
Bestimmt war es ein Risiko, einfach einen Hund dazu zu nehmen, der uns völlig unbekannt war. Aber es ist uns geglückt. Und gemeinsam hält die drei nichts mehr auf.
Sie bilden die Basis für meine heutige Arbeit, um stark verängstigten Strassenhunden aus dem Osten die Chance zu geben, in unserer Gesellschaft einen guten Platz zu finden.

 

Tim

Tim

Tim kam 2014 zu uns. Ich habe ihn im Tierheim gesehen, als ich ein paar Futter-Spenden vorbei brachte. Er lief im Zwinger die Wände hoch und runter.
Bis dahin war der Plan eigentlich, keinen zweiten Hund aufzunehmen, um Diesels Alleinherrschaft nicht zu gefährden.
Ich fragte im Büro nach Tim und sie sagten mir, er wäre absolut sozial mit anderen Hunden. Sein Problem sind die Menschen.
Er wurde mit 14 weiteren Hunden von der Polizei beschlagnahmt. Er hatte mit den anderen Hunden auf einem Hof gelebt, eingepfercht in einen kleinen Käfig, draussen, ohne Schutz vor Kälte oder Nässe. Er kannte nichts und hatte nur panische Angst.
Der Pfleger vom Tierheim trug ihn ins Büro, weil er nicht lief. Er legte ihn vor mir auf den Boden und da lag er dann, Haut und Knochen, starrte mit leerem Blick vor sich hin.
Ich habe ihn mit genommen.

Diesel fand das zu erst natürlich nicht so toll. Aber Tim ließ ihn völlig in Ruhe. Mit so viel Platz, Gras, einem Haus, einer Wohnung, einem Bettchen… war er eh völlig überfordert. Es war April und schon recht warm. So konnte ich die Türen offen lassen und Tim hatte die Freiheit zu entscheiden, wo er sich verstecken wollte. Aber sein Bedürfnis, sich an Diesels Pfoten zu heften war größer. So folgte er uns schnell ins Haus und lieb auch über Nacht mit uns im Zimmer. Allerdings schlief er sitzend in einer Ecke, bis er umfiel. Dann setzte er sich wieder hin… den Sommer verbrachte er dann fast nur unter meinem Bett.

Im September 2014 lud ich Diesel und Tim ins Auto und wir fuhren für eine Woche in die Berge, wandern.
Diesel kam erstaunlich gut mit Tim klar. Diese Wandertour brachte uns alle ein ganzes Stück weiter und enger zusammen. Tims Ängste vor Kindern und Männern und Lärm sollten allerdings noch eine ganze Weile bleiben.

Tim ist heute Diesels bester Freund. Er entwickelt sich stetig weiter. Und je mehr Selbstbewusstsein er bekommt, desto mehr kommt sein Border Collie – typisches Verhalten durch…

 

 
Ein Kommentar

Verfasst von - 15/01/2020 in Diesels Strassengang

 

Diesel

Diesel

Diesel wurde im Jahr 2008 in Rumänien geboren, in der Nähe von Resita (Reschitz).
Ich war dort mit Freunden unterwegs und wir fanden ihn und seine drei Schwestern auf einer Tankstelle.
Die Welpen waren von dem Tankwart in einem Eimer Diesel gebadet worden, nach seiner Aussage gegen Ungeziefer. Nach einigem hin und her beschlossen wir, die Hunde einfach ein zu packen und mit zu nehmen. Die kleine Bande kam zunächst bei einer Tierärztin in Deutschland unter.
Ich beschloss Diesel zu behalten. Mein erster Hund. Unser erster Hund. Ich komme nämlich aus einer Katzenfamilie… Ich bin mit Katzen aufgewachsen, alle in unserer Familie hatten Katzen. Auch jetzt hatten wir eine 20 jährige Katze, Lion. Und zwei Neuzugänge, Bonnie und Clyde. Die beiden begleiten uns heute noch.

Die alte Lion wurde Diesels beste Freundin und Lehrerin. Für ein Jahr, dann hat sie uns für immer verlassen. Diesel hat eine Woche um sie getrauert.

Da Diesel unser erster Hund war, und ich nichts falsch machen wollte, arbeitet ich schon vor seiner Ankunft mit einer Hundetrainerin zusammen. Das war auch recht erfolgreich.
Diesel war ein Musterschüler. Das lag aber überwiegen daran, dass er das Hundetraining so doof fand, dass er es möglichst schnell hinter sich bringen wollte.
Das Training war gar nicht das schlimme. Schlimm waren all die anderen Hunde…

Die Tierärztin, bei der er zu Beginn noch mit seinen drei Schwestern lebte, hatte noch drei weitere Hunde. Diesel interessierte sich für keinen, auch nicht für seine Schwestern. Wenn diese spielten, verzog er sich und drehte ihnen den Rücken zu. Welpengruppe fand er doof. Hunde am Rhein = doof. Hundetraining, Spaziergänge – es war egal, er wollte mit keinem anderen Hund etwas zu tun haben.
Bei dem Versuch ihn zu sozialisieren, habe ich drei Trainer und Therapeuten verschlissen. Immer kamen sie zu dem gleichen Ergebnis – er will nicht, also lassen wir ihn.

Er kam mit ins Büro und kannte sich in unserem Viertel bestens aus. Er liebte es einfach dabei zu sein, egal wo. Wir beide unternahmen viele Reisen quer durch Europa, wohnten dabei zusammen im Auto oder Zelt.
Inzwischen leben wir in Süd-West-Frankreich und er ist mein bester Lehrer. Für mich und für unsere Schützlinge. Er ist der Chef, dem alle folgen, obwohl er sich um diesen Posten nie beworben hat.